27.08.2008
20.09.2008
Ausstellung
Publikation
 
 

N.O.Body

Pauline Boudry / Renate Lorenz

"Das Lachen spricht die nichtoffizielle Wahrheit, und diese ist in einem System, das sich über Differenzierung, Oppositionierung und Hierarchisierung stabilisiert, die von ihm mitproduzierte, jedoch verheimlichte Ambivalenz der Dinge. Lachen hält sich an den Rändern und Grenzen eines gesellschaftlichen Machtapparates auf, indem es das aus ihm Ausgeschlossene und Tabuisierte wieder einführt." (Linda Hentschel)

Unser Film und die Installation N.O. Body enstanden aus einer Recherche zu der Geschlechtertheorie Magnus Hirschfelds, der so genannten "Zwischenstufentheorie". Hirschfeld ging davon aus, dass Männlichkeit und Weiblichkeit nur Ideale sind, denen niemand gerecht werden kann, und dass alle individuellen Körper irgendwo zwischen diesen Idealen eingeordnet werden können. Magnus Hirschfeld stellte seiner Veröffentlichung zur Geschlechtskunde ein weiteres, dickeres Buch, zur Seite: Geschlechtskunde, Bilderteil (erschienen 1930). Dieses Buch zeigt auf über 800 Seiten ausschließlich Photographien und Zeichnungen von Menschen in Drag, von welchen, die in den Kleidern des andern Geschlechts "passen" / "durchgehen", von Fetischist_innen und SM-Szenarien, von verkörperter Geschlechtsuneindeutigkeit und den dazugehörigen Kleidungsstücken, von Uniformliebe, gleichgeschlechtlichen Paaren oder auch Tieren, die als "Zwitter" bezeichnet wurden. All diese Bilder verwandte Magnus Hirschfeld als visuelle Belege seiner Geschlechtertheorie. Photographie nahm für ihn einen großen Stellenwert hinsichtlich der Kommunikation seiner Theorien und ihrer Evidenz ein: Hirschfelds wissenschaftliche Vorträge waren gewöhnlich von einer Dia-Präsentation begleitet.

Der Film re-inszeniert eine Photographie der "bearded lady" Annie Jones: Annie Jones lebte in den USA zwischen 1865 und 1902 und war eine der berühmtesten Bartdamen ihrer Zeit. Schon mit neun Monaten war ihr Gesicht mit Haaren bedeckt, sie wurde von Zirkus Barnum unter Vertrag genommen und als "Freak" zunächst in einem Museum präsentiert. Sie tourte mit dem Zirkus Barnum und später auch mit einer eigenen Show in den USA und in ganz Europa. Diese Photographie von Annie Jones durchquerte zwei unterschiedliche Kontexte: Sie wanderte von der Freak Show im Zirkus Barnum, wo sie sich gegen Bezahlung als "Wunder" oder als "verblüffend" präsentierte, in das medizinische Theater, wo sie im Buch Hirschfelds als potentieller "Patient" gezeigt wurde. Dieser Wandel vom ‚Wunder' zur Objektivierung in der Medizin markiert zugleich das Wichtiger-Werden der Moderne und der Aufklärung. Die Photographie bewegte sich vom Freak-Diskurs in den medizinischen Diskurs und trug so die Geschichte einer historischen Veränderung in der Repräsentation und Abwertung von Differenz und der an sie geknüpften Praktiken mit sich.

Das Setting des Films N.O. Body zeigt einen Hörsaal des 19. Jahrhunderts, in dem die möglichen Positionen der Wissensproduktion räumlich angeordnet sind – die zentrale Position der "Professor_in", der große Tisch, der das Objekt des Interesses vorführt, die Tafel, an der die Erkenntnisse festgehalten werden und die Zuhörer_innenschaft, die auf ansteigend angebrachten Sitzen auf diese Szene hin ausgerichtet ist. Doch was geschieht in der Produktion von Normalität und Devianz, so fragt der Film N.O. Body, wenn das "Objekt des Wissens" sich auch die Position der Wissensproduzent_in aneignet, zu lachen beginnt und die Geschichte der Wissensproduktion noch einmal aufrollt? Und das Bild eines leeren Saals weist auch dem möglichen Publikum eine Position zu: N.O.bodies.


Arbeiten in der Ausstellung:
N.O.Body, Pauline Boudry / Renate Lorenz, 16mm film / DVD, 15 min. loop, 2008
47 Fotografien, reproduced from: Magnus Hirschfeld, Geschlechtskunde, Bilderteil, Berlin 1930

Filmcredits:
Performance: Werner Hirsch
Kamera: Bernadette Paassen
Sound Recording: Karin Michalski
Still Fotografie: Andrea Thal
Sound Design: Rashad Becker

Publikation:
Text: Renate Lorenz und Pauline Boudry
Übersetzung ins Englische: Daniel Hendrickson
Korrektur: Nicole Emmenegger, Anuschka Pfammatter
Herausgegeben von edition fink und Les Complices*

Text: Renate Lorenz

Links: www.boudry-lorenz.de